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Warum Deutschland eine europäische Energiewende braucht
Zusammenfassung
Die Europäische Union verhandelt derzeit über ihre Energieziele für 2030. Rebecca Bertram geht der Frage nach, warum Deutschland eine europäische Energiewende braucht. Sie sagt, Deutschland habe erheblich vom integrierten europäischen Stromnetz profitiert. Deutschland und die Europäische Union sind Ende 2015 dem Pariser Klimaabkommen beigetreten. Bertram: Europa braucht eine einheitliche Wachstums- und Innovationsvision, um große Investitionen in ein übergreifendes europäisches Projekt anzuziehen. Eine europäische Energiewende käme der Energiesicherheit Deutschlands und der gesamten Europäischen Union zugute, denn lokal erzeugter Strom in Kombination mit steigender Energieeffizienz verringere die Abhängigkeit von Importen und internationalen Preisentwicklungen. Eine Wende wird es nur geben, wenn Deutschland seine europäischen Nachbarn von den wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Vorteilen überzeugt, die ein Umbau des Energiesystems mit sich bringt. Europa braucht eine Energievision, die nicht nur eine Innovations- und Digitalisierungskultur fördert und stärkt, sondern auch die Rolle Europas als globaler Vorreiter einer nachhaltigen Energiepolitik unterstreicht und die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Europas erhöht.
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Warum Deutschland eine europäische Energiewende braucht
Warum Deutschland eine europäische Energiewende braucht
Die Europäische Union verhandelt derzeit über ihre Energieziele für 2030. Bisher wurde die deutsche Energiewende als zu engstirnig kritisiert. Dabei liegt es in Deutschlands unmittelbarem Interesse, die europäische Dimension mit einzubeziehen. Rebecca Bertram untersucht, warum Deutschland eine europäische Energiewende braucht.
Der Ursprung der deutschen Energiewende ist rein national. Als die deutsche Bundesregierung beschloss, die Umstrukturierung des deutschen Energiesystems in Angriff zu nehmen, tat sie dies ohne Rücksicht auf die Auswirkungen der Umstellung auf die europäischen Nachbarn. Das führt dazu, dass die deutsche Energiewende in Europa nicht immer in dem Maße gewürdigt wird, wie es sich die deutsche Politik wünschen würde.
Europa gibt der deutschen EnergiewendeFlexibilität
Mit einem Anteil von 32 Prozent erneuerbarer Energien an der gesamten Stromerzeugung geht die deutsche Energiewende in eine entscheidende zweite Phase. In einem Energiesystem, in dem die volatilen und nicht immer leicht verfügbaren erneuerbaren Energien den größten Anteil an der Erzeugung ausmachen, besteht die Herausforderung zunehmend darin, Angebot und Nachfrage effizient in Einklang zu bringen.
Deutschland hat in den letzten Jahren erheblich vom integrierten europäischen Stromnetz profitiert. So hat es beispielsweise überschüssigen Windstrom aus Norddeutschland in die Stromnetze seiner Nachbarn eingespeist oder deren Netze genutzt, um Strom aus Norddeutschland zu den Industriezentren im Süden Deutschlands zu transportieren. Immer dann, wenn Deutschland ein Tief in der eigenen Stromerzeugung hatte, konnte es konventionellen Strom von seinen Nachbarn beziehen. Diese Praktiken und Aktionen haben jedoch zu erheblichen Unberechenbarkeiten in den nationalen Stromnetzen der anderen europäischen Länder geführt. Insbesondere Polen hat immer wieder beanstandet, dass diese Situation seine Energieversorger dazu zwingt, ihre Netzübertragungskapazitäten entsprechend anzupassen.
Für Deutschland war und ist dieser Umstand vor allem aus zwei Gründen günstig.
- Erstens konnte Deutschland dadurch seinen Stromüberschuss - derzeit etwa 8 Prozent des jährlichen Stromverbrauchs - in andere europäische Länder exportieren.
- Zweitens erspart es Deutschland den kostspieligen Aufbau einer eigenen flexiblen Strominfrastruktur mit großen Speicherkapazitäten und neuen Übertragungsleitungen.
Deutschlands Nachbarn, die mit diesen Parallel- und Schleifenströmen unzufrieden sind, haben im Gegenzug schrittweise den Einsatz von sogenannten Phasenschiebern entlang der Grenzen zu Deutschland erhöht, um die Auslastung ihrer nationalen Stromnetze zu minimieren. Für die deutsche Energiewende ist dies ein entscheidender Verlust, da die bisherige Vorgehensweise nicht nur Flexibilität ermöglichte, sondern auch die Kosten der Energiewende niedriger hielt, als es ohne Zugang zu den Stromleitungen und Strommärkten der Nachbarn der Fall gewesen wäre.
Die deutsche Energiewendewird nur gelingen, wenn sie europaweit übernommen wird
Laut der Energievision der Europäischen Kommission für 2030 soll Europa 27 Prozent seines gesamten Energiebedarfs mit erneuerbaren Energien decken und seine Energieeffizienz um 30 Prozent steigern. Darüber hinaus sollen bestimmte Kapazitätsmechanismen den Bau neuer konventioneller Kraftwerke begünstigen.
Diese Ziele zeigen vor allem, dass die europäischen Mitgliedsstaaten derzeit nicht geeint eine größere gemeinsame Energievision verfolgen. Stattdessen verfolgt jedes Land weiterhin rein nationale Energieinteressen - von der Kohle in Polen bis zur Atomkraft in Frankreich. Angesichts dieser Unterschiede ist es nicht verwunderlich, dass die EU-Kommission keine ambitioniertere Gesetzgebung vorschlägt. Das wird sich nur ändern, wenn Energiewende-Vorreiter wie Deutschland ihre europäischen Nachbarn von den wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Vorteilen überzeugen, die ein Umbau des Energiesystems mit sich bringt.
Dies wäre natürlich im eigenen Interesse Deutschlands, denn Deutschland braucht Europa, um seine eigene Energiewende voranzutreiben. Die EU-Kommission hat die Macht, die deutsche Energiewende in den nächsten Jahren erheblich zu bremsen. So droht die Kommission beispielsweise mit einem Ende des deutschen Netzvorrangs für erneuerbare Energien. Eine europäische Energiewende ist auch notwendig, um die Klimaziele zu erreichen, zu denen sich Deutschland und die Europäische Union im Rahmen des Pariser Klimaabkommens Ende 2015 verpflichtet haben. Nicht zuletzt kann die deutsche Energiewende allein - vorausgesetzt, sie führt endlich zu den dringend benötigten THG-Emissionsreduktionen - noch nicht die notwendige Wende im globalen Klimawandel herbeiführen.
Europa in der Krise braucht eine Energievision
Europa befindet sich derzeit in einer schweren Identitätskrise. Nach dem Brexit und angesichts der zahlreichen antieuropäischen Bewegungen in vielen EU-Mitgliedsstaaten braucht Europa eine vereinheitlichende Wachstums- und Innovationsvision, die in der Lage ist, große Investitionen in ein übergreifendes europäisches Projekt anzuziehen.
Eine europäische Energiewende könnte diese Vision für Europa sein. Sie würde nicht nur eine Innovations- und Digitalisierungskultur fördern und stärken, sondern auch die Rolle Europas als globaler Vorreiter in Sachen nachhaltiger Energiepolitik unterstreichen und die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Europas steigern.
Schließlich käme eine europäische Energiewende der Energiesicherheit Deutschlands und der gesamten Europäischen Union zugute, weil lokal erzeugter Strom in Verbindung mit steigender Energieeffizienz die Abhängigkeit von Importen und internationalen Preisentwicklungen verringert. Die alarmierenden Auswirkungen der Energieunsicherheit für Europa wurden in den letzten Jahren durch die russisch-ukrainischen Gasstreitigkeiten deutlich spürbar, die schmerzlich daran erinnerten, dass die Europäische Union heute rund ein Drittel ihres Erdgases aus Russland importiert. Wenn die Europäische Union es mit ihrer Mission der Energieunion ernst meint, sollte sie dies direkt mit den Diskussionen über eine europäische Energiewende verknüpfen. Eine solche Vision würde die Krise in eine Chance für Europa verwandeln, sowohl seine Verhandlungsposition gegenüber Russland zu verbessern als auch seinen Status als internationaler Vorreiter für eine moderne und nachhaltige Energieinfrastruktur.
Wie geht es weiter?
Wenn Deutschland also in den nächsten zwei Jahren einen sinnvollen Beitrag zur energiepolitischen Debatte in Europa leisten will, sollte sich Berlin nicht auf kleinliche Streitigkeiten über den vorrangigen Netzzugang für erneuerbare Energien oder Kapazitätsmechanismen beschränken. Vielmehr sollte Deutschland gemeinsam mit seinen europäischen Nachbarn ein neues Narrativ über eine gemeinsame europäische Energiewende entwickeln - eines, das auch die Anliegen der anderen europäischen Mitgliedsstaaten berücksichtigt. Dieser Dialog sollte sich auf die Vorteile Europas bei der wirtschaftlichen Modernisierung und im internationalen Wettbewerb konzentrieren. Nur dann kann die Energiewende sowohl in Deutschland als auch in Europa gelingen.
Rebecca Bertram leitet die Arbeit zur europäischen Energiewende in der Geschäftsstelle der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Integration der verschiedenen europäischen Energiediskussionen in den deutschen Energieentscheidungsprozess.
Ursprünglich veröffentlicht https://energytransition.org/2017/02/why-germany-needs-a-european-energiewende/